Lieber als Träumende: solche, die wach bleiben

Dass Fiktionen die Funktion haben, das bewusste Leben über die Grenze zum Tod hinaus zu dehnen, bezeugen die Mythen, Märchen und die Geistergeschichten. Dass Bewusstsein auch an der Grenze zum Schlaf nicht haltmachen will, bezeugen ebenso unzählige Traumerzählungen.

Mich langweilt die poetische Rhetorik der Traumdarstellung in Literatur oder Film meist. Leuten, die von einem Traum berichten in der einwärtsgewandten (nicht expressiven), das eigene Befremden wie eine dunkle Kellertreppe hinuntertappenden Indirektheit dieser vom Körper nicht recht vorgesehenen Anamnese, höre ich dagegen gern zu.

Bei kulturellen Produkten sind mir lieber als träumende Mitmenschen solche, die wach bleiben. Schon als Kind genoss ich es besonders, wenn die Fünf Freunde von Enid Blyton oder die Drei ??? zur Aufklärung eines der Kriminalfälle nachts ein Haus, ein Boot im Hafen oder den Eingang einer Höhle beobachten mussten.

Ich las in diesen Jahren oft wörtlich, bis mir die Augen zufielen, und der Sieg der fiktiven Held*innen über den Schlaf tröstete über die unausweichliche eigene Niederlage (dass sie wach blieben, war in gewisser Weise viel heroischer als die mehr oder weniger gekonnt inszenierten Lösungen der moderat spannenden Rätsel).

In einigen der japanischen Romane, die mich später begeisterten – Yasushi Inoues Waga haha no ki zum Beispiel – erschien mir die Totenwache auf ähnliche Weise attraktiv. Mein Glück, mittels einiger Sätze im Körper einer Tochter oder eines Sohnes die Nacht durchwachen zu dürfen, während die Welt ringsumher in ihren gewohnten dumpfen Schlummer versank, unterdrückte jeden Gedanken an die Traurigkeit des Anlasses und den Horror, Stunde um Stunde allein im Zimmer mit einer Leiche verbringen zu müssen, die bis eben noch deine Mutter war.

Soweit ich es erinnere, betont Inoue die Mühen, sich um die alte, gebrechliche, aber eigensinnige Mutter zu kümmern, schildert die Spannungen, zu denen die ungleiche Verteilung dieser anstrengenden Arbeit in der Familie führt. Auch nach dem Tod, der aus der Pflegehölle erlöst, geht es doch strapaziös weiter. Mir entgingen diese Aspekte damals also keineswegs.

Dennoch trübt das Mitempfinden von Mühe, Erschöpfung, Frustration, Groll auf andere und Selbstvorwürfen mein Vergnügen an dieser langen schlaffreien Nacht kein bisschen. Ich frage mich, ob meine Reaktion weniger selig ausfiele, wenn ich die Passage nach dem Tod meiner eigenen Mutter nun wiederläse. Ich glaube nicht.

Auf YouTube finde ich das Video eines Spaziergangs durch den Schnee in Kamakura morgens um vier Uhr. Auf den Straßen nahe dem Bahnhof Wadazuka, wo selbst nachts dann und wann ein Auto durchfährt, handelt es sich eher um Matsch, und erst am Strand gleitet die Kamera über eine dünne gleichmäßige Schneedecke. Aber dass da jemand sich auf den Weg gemacht hat in dieser Stunde, die feuchtkalte Luft atmet – das tut, was ich mit Gewissheit verschlafen hätte, wäre ich im Februar, als der seltene Schnee fiel, in Tokyo gewesen –, sichert diesem Video mein Wohlwollen.

The city that never sleeps – die Vorstellung, in der Großstadt zu jeder Tages- und Nachtzeit hinreichend viele Menschen in der Nähe zu wissen, die wach sind und gewissermaßen das Wachen übernehmen wie in spontaner, naturwüchsiger Arbeitsteilung, wirkte auf mich stets beruhigend (solange die Wachen nicht meine Nachbarn waren und Krach machten).

Während die Existenz von Wächtern vor tatsächlich drohenden Gefahren, die Polizei oder das Militär, eher die Ängste wachkitzelt, wenn etwas sie einmal in die Aufmerksamkeit drängt, helfen diese Nacht- und Morgenschwärmer meinem Imaginären, einen Körper zu bewohnen, der gewissen Rhythmen unterworfen ist.

Sie verrichten ihren Dienst in der Anonymität, wie das Nebeneinanderleben zu Millionen sie bietet. Ich muss niemanden von ihnen kennen oder lokalisieren. Die Frage „Who’s there?“, die das Theater und seine Gespensterauftritte in Gang setzt, geht mir am Arsch vorbei oder unter dem Rücken durch, der sich wohlig in die Matratze drückt und die Notwendigkeit des Aufstehens verneint.

An den Videos der Spaziergangsdokumentarist*innen schätze ich, dass sie unbekannt bleiben, ihr Gesicht zuverlässig hinter der Kamera lassen. Nur eine Speiche ihres Schirms ragt ab und zu für einige Sekunden ins Bild.

An Schillers Dom Karlos gefiel mir, als ich im Studium für ein Seminar ein Referat dazu vorbereitete, am besten die Szene, da der König – kurz traumverloren, da er aufschreckt – sich über die eingeschlafenen Pagen in seinem Schlafzimmer beschwert: „Wacht denn hier niemand als der König?“

Es ist auf dieser Szene ebenfalls vier Uhr, Schwellenstunde zwischen Nacht und Morgen. Schiller teilt die Zustände hälftig: der König „von oben herab halb ausgekleidet“; stehend, aber doch „einen Arm über den Sessel gebeugt“; geistesabwesend, doch sprechend; die Pagen „auf den Knien eingeschlafen“.

Die Rolle desjenigen, der als Einziger kein Auge schließt, entspräche der Legitimierung des Souveräns als Wächter des Staates, dessen Bürger*innen ihre private Nachtruhe genießen dürfen, weil sie die politische Macht an den Richtigen abgetreten haben. Doch ein Souverän, der wettert, weil seine Dienerschaft so menschlich reagiert wie die Übrigen im Land – und der mit diesem Vorwurf den Ärger bemäntelt, selbst so weit weggedämmert zu sein, dass ihn die Uhrzeit überrascht –, offenbart eine mehr als persönliche Schwäche.

Es passt da was schlecht im Konzept der Alleinherrschaft: Vom doppelten Körper des Königs ist einer, der wichtigere, immer wieder für Phasen unbeaufsichtigt, da der andere schläft. Der Wächter über alle kann sich nicht selber bewachen. Er ist dafür auf Unterstützung angewiesen.

Doch wo die sich aus Dienern rekrutiert, die kein eigenes Management des Abwechselns unterhalten können, weil ihre Anwesenheit wie ein Schatten am Wandeln des Autokraten hängt, mutet die fatale Zeitschwachstelle des Potentaten seinem Gefolge ein noch übermenschlicheres Durchhalten zu.

Das scheitert früher oder später, wahrscheinlich gerade in einer kritischen Situation. Das synchrone Ermüden der Pagen – Knaben zumal, deren Väter der Herrscher hinrichten ließ – zeigt, wie die monarchische Zentralisierung des Wächtertums eine zweckmäßige Verteilung der Wach- und Schlafzeiten verunmöglicht. Die Stadt schafft mühelos, was den Palast überfordert.

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Ein die Seite mit der exakt richtigen Anzahl von Wörtern beschreibendes Leben

Seit einiger Zeit schaue ich bei Mahlzeiten daheim, da Nachrichten mir auf den Magen schlagen oder es mir obszön vorkommt, etwas Leckeres zu essen, während ich vom Sterben lese, oft YouTube Videos von Japaner*innen, die ihren Alltag in Szene setzen:

Eine Frau hat ihren Ehemann überredet, den Job in der Firma zu kündigen und mit ihr und der fünfjährigen Tochter in die nördlichen japanischen Alpen zu ziehen, wo sie günstig ein altes Haus kaufen konnten. Episode für Episode kann man verfolgen, wie sie dort ankommen und heimisch werden, nach und nach die vielen Zimmer einrichten, die nötigsten Reparaturen machen lassen, mit der Winterkälte hadern und die wunderbare Schneelandschaft einatmen, kochen, essen, spielen, Weihnachten und Neujahr feiern.

Ein jüngerer Sohn ist, vielleicht nach dem BA-Studium, ins Elternhaus zurückgezogen und dokumentiert nun den Alltag seiner Familie in einem Dorf auf Hokkaido, im hohen Norden, wo von Dezember bis Februar oder März meterhoch Schnee fällt (Schnee leitet meine Suche: ich will unspektakuläres Leben umgeben von Schnee, einer dichten Schneedecke über den Dingen). Er konzentriert sich auf die Mutter, ihre Arbeit in der Küche und im Garten. Gelegentlich, wenn die Familie Schneemassen vom Dach schaufelt oder bei Festen, kommen mit verwischten Köpfen sein nebenan wohnender älterer Bruder, die aus Taiwan angereiste Schwester oder der kamerascheue Vater ins Bild, und einige Folgen widmen sich der 91-jährigen Großmutter, die noch sehr fidel wirkt, Klavier spielt, ihren eigenen Haushalt führt, während der Großvater offenbar im Pflegeheim ist.

Ein anderer Mann, ebenfalls Stressflüchtling aus Tokyo, lebt allein auf der Halbinsel Izu. Er arbeitet im Design- oder Werbebereich, profitiert davon, die Kommunikation online erledigen zu können, und zeigt mit einem gewissen Stolz, wie er allein sein Bier zum effizient zubereiteten Abendessen genießt.

Es gibt eine große Auswahl solcher Vlogs, etliche mit Followerzahlen in den Zehn- und Hunderttausenden. Die Einnahmen, die sie über die Plattform erzielen, sind vermutlich im ökonomischen Konzept des Lebensprojekts einkalkuliert. „Aussteigen“ ist seit langem eine verbreitete Wunschphantasie, und warum sollte die Möglichkeit, von fern, der Vorstellung nach teilzunehmen, nicht die finanziellen Risiken derer, die den Wunsch zu realisieren wagen, ein wenig abfedern?

Was mir an den Videos auffällt – und was mich über das milde Vergnügen hinaus interessiert –, ist ihr technisches Level. Die Betreiber*innen der Vlogs sind sämtlich sehr versiert darin, ein Format zu bedienen, das sie bei anderen erfolgreichen Kanälen vorgefunden haben dürften und übernehmen:

Zu Beginn eine kurze Vorschau aus schnell geschnittenen Einzelbildern („Impressionen“); dann Erzählungen von insgesamt sieben bis zwanzig Minuten Länge, die Tage oder Wochen zusammenfassen (die ambitionierteren Vlogs veröffentlichen wöchentlich ein neues Videos, andere seltener oder unregelmäßig), mitunter locker thematisch fokussiert („Schwerer Schnee Ende Januar“, „Die Abendroutine meiner Großmutter“, „Puppenfest“); zum Schluss der obligatorische Dank fürs Ansehen und die Bitte, den Beitrag bei Gefallen zu liken und den Kanal zu abonnieren.

Die Einstellungen springen nach recht schematischen, aber durchaus professionell montierten Sequenzierungen zwischen panoramatischen Landschaftsaufnahmen (bisweilen Dronenflüge), Halbtotalen mit handelnden Personen und Details (tropfende Eiszapfen an der Dachrinne, Stiefel und Spaten, kleine rote Blüten im glitzernden Weiß). Drinnen erfasst die Kamera aus der Zimmerecke die menschlichen Körper von schräg hinten oder pittoresk drittelverdeckt von Blumengestecken, Dosen und Gläsern, woraufhin wir Hände bei der Arbeit sehen, Küchenutensilien, geschickte Verrichtungen, leuchtende Obst- und Gemüsefarben, Dampfschwaden im Gegenlicht, dazu hochpräsente Schneide- oder Hackgeräusche hören, Rascheln und Knacken, Zischen und Brutzeln, eine audiovisuelle Plastizität wie im Werbespot.

Manchmal verspricht der Infotext ASMR-Qualität. Die Macher*innen wissen, dass ihre Zuschauer- und -hörer*innen ein Behagen aus dem ziehen, was sie ihnen als Essenz ihres Lebens offerieren, und was immer sie sonst noch sind oder sein möchten, sie erweisen sich als gewiefte Manager häuslicher Behaglichkeit.

Kurze Sätze, als Untertitel oder auch mitten übers Bild gelegt in schöner japanischer Schrift, versehen die filmischen Erzählungen mit der Stimme der Person, die uns Einblick in diese überlegt ausgewählten und aufbereiteten Alltagsfragmente gewährt.

Ihr Tonfall ist unterschiedlicher als die genormte audiovisuelle Ästhetik: Die Frau neigt zum Ernst, teilt ihre Sorgen und körperlichen Nöte (sie kann nicht schlafen, weil die Temperatur im Zimmer frühmorgens minus drei Grad beträgt) ebenso mit wie die schönen Momente, die sie wie Argumente sich selbst gegenüber anführt, um den vollzogenen Schritt zu rechtfertigen. Der Sohn fügt in seine sachlichen Beschreibungen, die für Nichtjapaner*innen Unbekanntes ausführlich erläutern, den einen oder anderen ironischen Kommentar über seine eigensinnige Mama ein („LOL“). Der Designer schafft eine Stimmung trotziger Melancholie, die gerade so viel heroischen Weltverzicht durchschimmern lässt, dass es nicht ins Alberne oder Nervige kippt.

Alle sind dabei auf eine Art zurückhaltend in der Entblößung, die man für japanisch halten kann (ich würde vielleicht auch Vlogs aus anderen Ländern gar nicht ertragen), die mir aber auch durch das Management eines anteilnehmenden, dennoch nicht auf wirkliche Intimität versessenen Genießens temperiert scheint.

Denn die Protagonist*innen dieser Video-Tagebücher sind ja weder charismatische Stars, deren Fans dankbar nach jedem Fitzel Privates schnappen, noch haben sie außergewöhnliche Erlebnisse zu berichten. Der Stoff, mit dem sie dealen, ist das leicht andere, minimal exotisierbare Gewöhnliche, und es wäre ihrer Popularität kaum dienlich, das Ruhige – diesen Mehrwert des Landes gegenüber der Stadt oder auch des achtsam an seinen flüchtig schwebenden Atmosphären und kleinen Köstlichkeiten entlang geführten Lebens innerhalb der Stadt – zu dramatisieren.

Im Gegenteil vermeidet die Aufzeichnung den Sprung des Tagebuchs in den Roman bzw. dessen Rückwirkungen auf dieses. Anstelle einschneidender biografischer Ereignisse zeigen die Serien durchgehend intakte soziale kata, denen das Persönliche quasi nur Couleur verleiht.

Tagebuchästhetisch (die meisten Vlogs verwenden die Bezeichnung nikki) erinnern sie an die allerersten, vorpubertären Anläufe, bei denen das Tagebuch noch kein Medium, sondern reine Form ist, eine Abfolge sauberer, blassvioletter oder cremefarbener, von zarten Ornamenten umrahmter Seiten, die es akkurat zu füllen gilt. Kitsch ist kein Kriterium. Hauptsache, es passt.

In Bezug auf die Gründe für ihre Popularität gehören diese YouTube-Kanäle in Nachbarschaft zu Videos mit Spaziergängen durch irgendwelche Viertel irgendwelcher Städte (vor ein paar Jahren, als ich nach Regen suchte, stieß ich auf viele mit schlafförderndem Prasseln auf einen transparenten japanischen Schirm), zu stummen, auf Texteinblendungen beschränkten „Reviews“ von Cafés, Restaurants und Hotels (ich mag besonders onsen-ryokan, wiederum optimalerweise in verschneiten oder verregneten Berglandschaften) und zu Nachtfahrten in verschiedenen Luxuszügen und -fernbussen, an denen Japan reich ist.

Im Gegensatz zum hypervitalen Influencer-Gequatsche verbünden die flachen, informationsarmen und sehr zuverlässigen Dramaturgien sich mit der Ermüdung. Auf dem Niveau technisch ambitionierter, mit Sorgfalt und Sachkenntnis arbeitender Amateure leisten sie, was Diedrich Diederichsen in seinem Büchlein zu The Sopranos von der Serie sagt: Sie gestatten einer Alltagszeit, sich auszudehnen, so dass man das Leben in einer Langsamkeit an sich vorüberziehen lassen kann, die umso kostbarer erscheint, je hektischer die eigenen Tage davonschießenden Zielen hinterherrennen.

Ohne Team von Drehbuchautor*innen nehmen die Videotagebücher das Kostbare selbst, lokalisieren es in den jeweils verfügbaren Vorgängen (Aufstehen und das frühe, unberührte Draußen begrüßen, Kaffee aufgießen, immer wieder kochen) und kredenzen genau jenes Tägliche, das man sich damals, als kleines Mädchen oder kleiner Junge mit seinem ersten Tagebuch gewünscht hätte: ein die Seite mit der exakt richtigen Anzahl von Wörtern beschreibendes Leben.

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Ohne Reaktionen glücklich

Obwohl die Behauptung sofort Widerspruch auf den Plan rufen wird (und dieser Widerspruch seinen Ort und seine Berechtigung in einer Erörterung hat): Performance spekuliert in einem konstitutiven Sinne nicht auf Reaktionen.

Man könnte so geradezu den Unterschied zwischen Performance und Theater definieren: Das Theater sieht es vehement auf Reaktionen ab, sieht sich selbst immer schon im Spiegel eines reagierenden Publikums, und kann eben deshalb mit keiner wirklichen Reaktion etwas anfangen. Performance kommt ohne Reaktion aus, wird mit dem bloßen Vollziehen von Handlungen glücklich, und eben deshalb kann sie jede Reaktion zulassen.

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Vom Vorteil, die eigene Verletzbarkeit nur ungefähr zu kennen

Wagners Phantasie, dass ein fröhlicher Trottel die prozedural gelähmte Gesellschaft erlöst, indem er die Prozedur wie ein Spiel bewältigt, blitzt hier und da ganz real im Aktivismus auf. Der Mut, es mit dem Goliath Staat und Großkonzernen aufzunehmen, verdankt sich bisweilen einer kindlichen Naivität, der ein Kampf gegen Polizei und Security-Kräfte wie die inoffizielle Tour über einen Abenteuerspielplatz erscheint. Es zu wagen ­– auszutesten, ob man damit durchkommt, ob irgendwas vom Geplanten klappt oder ob es gelingt zu entwischen, wenn die Sache schiefgeht –, macht Spaß.

Ähnlich dem Kind, das die Verletzbarkeit des eigenen Körpers nur sehr ungefähr kennt und gern vergisst, hilft den jungen Erwachsenen eine unrealistische Selbsteinschätzung. Tatsächlich gehört ein perspektivisches Verkennen der Kräfteverhältnisse in einer modernen Massengesellschaft zur kollektiven politischen Subjektivierung, und die aktivistischen Naivlinge sind die Alternative zum Mob: Sie erhalten ihren narzisstischen Flash, der ein bisschen Allmachtsgefühle weckt, nicht vom Aufgehen des eigenen Körpers in einem Aggregat, das lauter brüllt und faschistoider die Fäuste schüttelt, sondern durch Synchronisierung im Kichern.

Verspielt ist dieser Typ von Aktivismus auch darin, dass er Chancen nicht nutzt, die ein militärisch organisiertes Vorgehen erfolgreich wahrgenommen hätte, und die reinen Toren müssen damit leben, dass man sie in den eigenen Reihen mal belächelt, mal für ein Ärgernis hält, während das Establishment sie zu üblen Kriminellen stilisiert und Gerichte sie verurteilen, als müsse die Härte der Strafe den Ernst der Sache herstellen.

Das Spiel scheint sie in die Nähe zum Ästhetischen zu rücken, aber nur in nachbarschaftliche Nähe. Der artivism findet in ihnen begeisterungsfähige Mitspieler*innen, solange das Prädikat ‚Kunst‘ selbst ein augenzwinkerndes bleibt. Kunst als Ausrede gefällt ihnen (Christoph Schlingensief sitzt bei Pippi Langstrumpf hinten mit auf dem Pferd). Wo der Festival- und Aufführungsbetrieb jedoch echte, seriös reflektierte Kunst verlangt, überkommt sie Unbehagen, und zwischen den ernsthaften Aktivist*innen, die mit bourgeoiser Kunstkacke eh nichts zu tun haben wollen, und den ernsthaften Künstler*innen, denen der Aktivismus für eine bloße Verlängerung der politischen Wirkung von Kunst überhaupt gilt, hängen sie etwas verloren und würden vielleicht aufhören, wenn es nicht so viel Spaß machte, den Bullen hin und wieder ein Schnippchen zu schlagen.

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Performance und die Macht des Schwächeren: Unpünktlichkeit, Ersetzbarkeit, Niedlichkeit

Ab Dezember 2023 führe ich mein Heisenberg-Forschungsprojekt „Performance und die Macht des Schwächeren: Unpünktlichkeit, Ersetzbarkeit, Niedlichkeit“ am Institut für Medien, Theater und populäre Kultur der Universität Hildesheim durch.

Performance besteht in dem, was Körper vollziehen. Sie findet sich regulär in der Position des Schwächeren – im Verhältnis sowohl zu juridisch-institutioneller Macht als auch zu jenen materiell-energetischen Fakten, durch die das Herstellen seine weltverändernde Macht erlangt. Die Autorität von Gesetzen; die Exekutivmacht von staatlichen, teils privatisierten Regulierungen; die Gewalt, die souveräne Instanzen ausüben lassen oder androhen; und die Sachzwänge infrastrukturell objektivierter Produktions- und Distributionsökonomien – all das ist zu einer überwältigenden Wirksamkeit aggregiert, gegen die körperliches Vollziehen offenbar wenig vermag.

In dem Projekt geht es darum, dieses Wenige präziser zu benennen, seine Möglichkeiten und (Un-)Wahrscheinlichkeiten zu erörtern. Die Wirkungsperspektive für performative Künste liegt in der modernen Welt kaum mehr darin, eine Mehrheit oder statistisch relevante Minderheit („kritische Masse“) von Zuschauer*innen politisch zu überzeugen. Ein Wirkungspotenzial haben diese Künste darin, dass sie Praxen darbieten und vorschlagen – das heißt etwas, das so in die Welt gelangt und dadurch in der Welt gehalten wird, dass immer wieder einmal jemand es vollzieht, und das sich in kollektiven Dynamiken des Vollziehens zeitweise verstetigen kann.

Für die politische Valenz solcher Praktiken kommt es weniger darauf an, ob sie gegenwärtig breit popularisierbar sind, als vielmehr darauf, dass das Vollziehen selbst über Techniken und Ressourcen verfügt, um sie weiterzutragen, ihnen ein Überdauern zu organisieren. Kraft der Evidenz körperlichen Vollziehens demonstrieren die Praxen in einem „to whom it may concern“-Modus, dass jede*r tun kann, was die Künstler*innen tun, die sie im Rahmen ihrer spezifischen Ästhetiken ersinnen.

In diesem Sinne analysiert das Projekt Performances unter den folgenden drei Aspekten:

1. Unpünktlichkeit

In dem Maße, wie der moderne Nationalstaat sich als maßgebliche Herrschafts- und Verwaltungsinstanz etabliert, fällt Zeitherstellung in die Zuständigkeit des politischen Souveräns. Sie ist geregelt durch entsprechende Gesetze und institutionelle Befugnisse, „primäre Uhren“ zu unterhalten, deren verbindliche Normzeit sämtliche „sekundären Uhren“ informiert. Die staatliche Standardisierung von Zeit ist dabei in hohem Maße ökonomisch motiviert. Sie erfolgt in Europa im späten 19. Jh. auf Forderung der Unternehmen und spielt eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des globalen Kapitalismus und seiner weltweiten Logistik, die koloniale Verhältnisse verlängert.

Performance kann in eine Auseinandersetzung mit souveräner Macht eintreten, indem sie die Körperzeitlichkeiten des Vollziehens mit Uhrzeit konfrontiert: Welche Auswirkungen haben chronometrische Informationen auf Körper und deren kollektive Synchronisierungen? Welche Kräfteverhältnisse manifestieren sich in den Begegnungszonen von zentral administrierter Zeitgebung und marginalen ästhetischen Praxen? Welche Macht wohnt der konstitutiven Unpünktlichkeit von Körpern inne, die über keinen zentralen inneren Taktgeber verfügen, sondern ihre zeitliche Wirklichkeit des (Zusammen-)Lebens immerzu erst aus den Interferenzen vieler Temporalitäten ermitteln?

2. Ersetzbarkeit

An Vorgängen des Ersetzens zeigt sich exemplarisch das Kräfteverhältnis von Körpern und Institutionen. Gerade für ein vollziehendes Handeln, das keine zeitbeständigen Werke hervorbringt, sondern irgendwann aufhört, ist es wichtig, dass die Praxis von der handelnden Person immer wieder aufgenommen oder von anderen fortgeführt werden kann. Phasen des Ersetzens sind oft heikel, manchmal gar systemgefährdend. Obgleich eine Institution umso stärker erscheint, je gleichgültiger ihre Strukturen sich gegenüber den auswechselbaren Arbeitenden verhalten, bleibt sie darauf angewiesen, dass diese mit der Ersetzung kooperieren – und von dieser Kooperation her zeigen sich unterschiedliche Optionen für die Körper, ihre Schwäche zum Einsatz in Machtkämpfen und -spielen zu machen.

An Beispielen des Ersetzens in Theater- und Tanz-Performances untersucht das Projekt Beziehungen zwischen Ethik, Ökonomie und Ästhetik in einer durch postfordistische Arbeitsverhältnisse geprägten Gesellschaft. Um der Untersuchung eine historische Kontur zu geben, werden vergleichend Brechts noch im Geist der Moderne erhobene Forderung nach einer Affirmation von Ersetzbarkeit („sich entbehrlich machen“) und sein Entwurf einer Lehrstück-Praxis herangezogen: Wie können wir uns darin üben, nicht dermaßen verzweifelt darauf hinzuarbeiten, dass das System uns weiterbeschäftigt, sondern die Freiheit eines Einverständnisses in die eigene Endlichkeit (wieder-)gewinnen?

3. Niedlichkeit

Die affektive Macht, die das Niedliche ausübt, diene dem Schutz der Schwächsten, lautete die Erklärung, die Konrad Lorenz in den 1950er Jahren anhand eines Vergleichs zwischen jungen Säugetieren und menschlichen Kindern gab: Das „Kindchenschema“ – großer Kopf im Verhältnis zum Rumpf; große, tief liegende Augen; kleine Nase, kleiner Mund; kurze Extremitäten – löse bei Erwachsenen einen „Schutzreflex“ aus.

Aktuelle Forschung korrigiert die Behauptungen des Biologen, dessen Verhaltenslehre auch durch seine Nähe zum Nationalsozialismus in Verruf geraten ist: Niedlichkeit stimuliert sowohl „care affects“ als auch „play affects“. Sie regt Formen von Kommunikation an, die der relativen Schwäche der noch jungen Lebewesen Rechnung tragen, aber im Modus des Spiels durchaus auch kalkulierte Riskanz, das Austesten konflikthafter Situationen und die Suche nach Sublimierungsoptionen für Aggressionen und unerfüllbare Wünsche einschließen.

Im 20. und 21. Jh. etabliert sich mit dem japanischen kawaii eine populäre Niedlichkeitsästhetik mit globaler Resonanz. Ein Grund für den Erfolg von kawaii Manga und Anime in Japan liegt darin, dass deren Darstellungen schon seit Jahrzehnten in einer Anzahl performativer Praktiken verankert sind. Der Akzent auf der Verkörperung, wie im Cosplay, hat kawaii-Ästhetik aus der Abhängigkeit von kommerziellen Normierungen so weit gelöst, dass sich bis heute immerzu neue subkulturelle Varianten entwickeln – darunter hentai kawaii (‚perverse cute‘) mit einer offenen Grenze zum Pornografischen, kimo kawaii (‚creepy cute‘) und guro kawaii (‚grotesque cute‘) mit Affinität zu Horror und Splatter sowie yami kawaii (‚dark/sinister cute‘), wo Figuren mit Depressionen und Angststörungen im Mittelpunkt stehen.

Das Projekt widmet sich sozialen Praxen und künstlerischen Strategien der Verkörperung von kawaii-Figuren mit der Frage, was die Orientierung an einem gezeichneten Schema aus den Körpern macht: Kawaii-Niedlichkeit zieht alles ins Zweidimensionale und schickt es von dorther in die jeweilige Ausdehnung zurück. Das hat befreiende und ermächtigende Wirkungen. Es erleichtert es bspw., Grenzen zwischen männlich und weiblich, Mensch und Tier, Mensch und Ding oder Maschine, Einzelwesen und Umwelt zu überschreiten oder zu suspendieren. Niedlichkeitseffekte kommen damit queeren Subjektivierungen zugute. So nimmt eine jüngere Generation von Künstler*innen die transgressiven Impulse der queerfeministischen Performance und Body Art aus den 1970er und 80er Jahren wieder auf und verknüpft sie mit kawaii Designs.

Darum, welche Effekte Niedlichkeit haben darf, ist allerdings längst ein Kampf entbrannt: Auf der einen Seite helfen die performativen Ermächtigungen einem politischen Aktivismus – für den Online-Aktivismus formulierte etwa Ethan Zuckerman die „cute cat theory“, und der Umweltaktivismus in Japan brachte nach dem nuklearen Desaster in Fukushima 2011 Formen von „kawaii direct action“ (Gonoi) hervor. Auf der anderen Seite manipulieren Staaten und Konzerne die Bevölkerung durch putzige Maskottchen oder Polizeifahrzeuge, die wie Mangafiguren ausschauen, und auch die extreme Rechte macht von der Selbstverharmlosung durch niedliche Avatare Gebrauch.

Zudem stehen weltweit die entgrenzende, freie Übertragungen stimulierende kawaii-Ästhetik und die hyperdefinierte Disney-Cuteness, die den Körper mit Petitessen überzieht und selbst in die Kontur des Zierlichen zwingt, in einer nicht nur ökonomischen, sondern auch kulturellen und gesellschaftspolitischen Konkurrenz. Das Projekt sucht angesichts dieser Kämpfe nach Kriterien, um das Niedliche körperpolitisch zu verstehen und emanzipative Niedlichkeitsästhetiken zu unterstützen.

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Eine Welt ohne Weichspüler

Zu dem wenigen Positiven, was in den letzten Monaten an Nachrichten die Gesellschaft betreffend bei mir hängengeblieben ist, gehört, dass es den Firmen nicht mehr gelingt, jüngere Menschen zum Kauf von Weichspüler zu bewegen.

Sie scheinen einfach nicht zu verstehen, wozu man das Zeug brauchen könnte, obgleich der Name es ja in aller suggestiven Eindringlichkeit sagt. Ihr Unverständnis ist also kein kognitives Problem, sondern Indiz einer existenziellen, körperlich-sozialen Veränderung.

Das ist derzeit die einzige für mich plausible Weise, wie etwas Schlechtes weggeht: Auf einmal sind da Leute nachgewachsen, deren Weltwahrnehmung springt auf Reize, die Generationen vorher zuverlässig konditioniert hatten, nicht mehr an.

Offenbar kommt den Angehörigen derselben Altersgruppe auch ein unbezahltes Praktikum so absurd vor, dass sich selbst bei großen Theatern und Festivals, wo früher die Freiwilligen Schlange standen, nun weniger Leute bewerben, als der Betrieb gewohnheitsmäßig einplant, und die Geschäftsführungen wohl oder übel Geld umschichten, um die Arbeit zu vergüten.

Und es wäre immerhin denkbar, dass zukünftige Exemplare der Spezies auf Labels wie „hetero“ und „homo“ oder gar „männlich“ und „weiblich“ ähnlich gleichgültig reagieren und achtlos am Regal vorbeigehen, weil ihnen eine Vorstellung davon fehlt, wozu die Etiketten gut sein sollen.

Natürlich überlegen die Unternehmen sofort, wie sie ihren elenden Weichspüler trotzdem verkauft kriegen, und integrieren ihn jetzt ins Waschmittel wie die Pflegespülung ins Shampoo.

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Ersetzbarkeit: Die Stärke des Vertretens und die Befreiung des Schlafes

Es gibt eine Stärke (nicht nur eine Umsicht und strategische Klugheit des Distanzierteren), die daher kommt, dass ich die Sache eines anderen vertrete. Subjektivismus kultiviert zugleich die Erleichterung, sich im eigenen Handeln nicht direkt selbst der Welt auszusetzen, sondern im Schutz der Indirektheit einer Beziehung zu jemand anderem tätig zu werden.

Die moderne Institution appropriiert diese Neigung zum Indirekten. Sie bietet von Grundauf verunsicherten Subjekten die Stärke eines Stellvertreterischen als reguläre Disposition. Die gängige Hollywood-Fiktion einer Anwältin, die zur zivilen Aktivistin wird, da sie die Angelegenheit von Gesellschaftsschwachen, vom System Übervorteilten vertritt, verkitscht die Erinnerung daran, was für ein ziviles, ‚zwischenmenschliches‘ Motiv in jeder institutionellen Kompetenz steckt.

Zu betonen an stellvertretender Repräsentation wäre für eine Theorie des Zusammenlebens weniger das Identifikatorische (die Formalisierung der Person, die Übertragbarkeit ihres ‚Falles‘, die Interessenübereinstimmung oder empathische Affektivität von Solidarisierung) als vielmehr die Entlastung von einem subjektiv Eigenen und dessen Ersetzung durch ein vermitteltes Eigenes. Soll der Preis von Freiheit nicht in extremer Schwächung bestehen, braucht es Beziehungen zu Dritten, die Subjektivität in der Welt einzurichten helfen.

San Keller berührte diesen Aspekt in einer Aktion aus dem Jahr 2000, bei der er anbot, für Kund*innen an deren Arbeitsplatz zu schlafen.

Im Kontext der work hard, play hard economy, die Schlafzeit zwischen ‚freiwilligen‘ Überstunden im Job und immer weiter ins Nachher wandernden After Hour-Clubs verschluckte, ließ sich das leicht als kritisch-ironischer Kommentar zum Kapitalismus lesen. In der Nähe von Alberei und Ernst erörterte es die Grenzen von Dienstleistung mit ihrem stellvertreterischen Moment des Lasten-Abnehmens.

Dabei formulierte der Schlaf-Service auch eine Phantasie der Erlösung, deren Ursprung mit dem des Subjekts zusammengehört: ein Selbst-Bewusstsein, das sich in Träumen verlieren darf, während (und weil) ein anderer Körper ersatzweise die Pflicht zur Regeneration übernimmt – eine Befreiung des Schlafes, ganz im Sinne der abendländischen Metaphysik, die das Subjekt hervorbringt, um sich an ihm abzuarbeiten.

Erst wenn jemand anderes für mich das körperlich Notwendige des Schlafens übernimmt, erhält das Poetische des Traumes, das jede romantische Utopie des Onirischen beflügelt, die Gelegenheit zu einem feien Produzieren. Erst dann wäre das, was als Erwachen sowohl den Übergriff des Traumes auf die Tageswirklichkeit als auch die Grenze seiner Wirksamkeit in einer Bio-Sozio-Ökonomie des Lebens mit regelmäßigen Regenerationsphasen bezeichnet, von den Fesseln einer kurzen Zeitspanne, die sich mit Glück ein paar Mal, aber nicht beliebig wiederholen lässt, gelöst.


[1] https://recherche.sik-isea.ch/de/sik:work-14418838/in/sikart/work/tiles

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Das Elend von Netflix

Gestern Abend habe ich mit großer Mühe Giri Haji zu Ende geguckt. Krampfiger Versuch, durch Kreuzung zweier Genres Originalität zu erzeugen. In der Sopranos-Ära schien die Serie ein Format, um Dimensionen der Realität zu erschließen, die in Spielfilm-Dramaturgien wegen der Form notwendig undarstellbar bleiben mussten. Dieser Einzug des Andauernden, sich langsam oder manchmal gar nicht Entwickelnden, möglicherweise Konsequenzlosen in die Unterhaltung war, als hätte die abendländische Kultur eine ihrer konstitutiven Leugnungen aufgehoben und sei schließlich, nach Jahrtausenden, bereit zuzugeben, dass das Leben selbst von Interesse ist. Jetzt dagegen darf die Serie keine Aufmerksamkeit für irgendetwas ihr spezifisch Erkennbares schenken; sie ist einfach ein populäres Gefäß, in das man Themen reinstopft.

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Warum AI eher Romane schreibt als Verwaltungsarbeit abnimmt

Auf FB – längst ein Netzwerk der Gestrigen – blieb mein Blick im alten Jahr an einem Repost hängen. Der Verfasser (Selbstbezeichnung „Author. Haver of correct opinions“) schreibt:

„1960’s Futurists: Automation will free mankind from meaningsless tedium to focus on creative pursuits only human beings can master.

2020’s Techbros: We’re building AI to write all your books, music, and TV so you can focus on the meaningsless tedium of your cubicle job.“

So schal der Typ von Witz schmeckt, der hier gemacht wird, stimmt die Diagnose nicht?

Leute aus meinem Umfeld führen derzeit Experimente mit Chat GPT durch. Bini Adamczak bspw. diskutiert mit dem Programm über Kommunismus, fordert es auf, einen Dialog über Kant im Format der Netflix-Serie Superstore zu schreiben. Es scheint klar, dass wir demnächst Hausarbeiten bekommen werden, die teilweise oder ganz von AI verfasst sind (und ich frage mich, ob die AI schon jetzt oder demnächst imstande ist, überzeugende Kommentare zu den Hausarbeiten zu schreiben, so dass ich nur noch nach kurzem Überfliegen der ersten und letzten beiden Seiten eine Note festzulegen brauche).

Bei alldem wäre doch Verwunderung angebracht darüber, dass die Rhetorik des Kreativen nicht nur früher in den Fokus des AI-Engineering gerät als die der Verwaltung, sondern möglicherweise auch leichter zu knacken sein wird.

Eine naheliegende Antwort auf die Frage, warum es sich so verhält, lautet: Weil im liberal-bürgerlichen Weltbild, das die Praxis der AI-Entwicklung einbettet, das Kreative die Domäne der fröhlichen Verantwortungslosigkeit ist, während man auf Verwaltungstätigkeit die Autorität des Ernstes projiziert. Der Staat hält seine souveräne Macht in der Überzeugung, sich eine fröhliche Verwaltung nicht leisten zu können, und die von ihm direkt oder indirekt befugten Institutionen exekutieren diese Unterstellung.

Wenn etwa das wissenschaftliche Personal an den Unis vor lauter Verwaltungsaufgaben nicht dazu kommt, der Forschung nachzugehen und sorgfältige, um neue Erkenntnisse oder größere Präzision bemühte Texte zu schreiben, geht das auf die Fiktion zurück, die Verwaltungstätigkeiten seien zu wichtig, um sie weniger kompetenten Mitarbeiter*innen oder gar einer Software zu überlassen. Eingefaltet in dieses Wichtige sind die Interessenkämpfe, nachdem die Verwaltung – wie der gesamte Bereich des postfordistisch organisierten Ökonomischen – durchweg ‚politisiert‘ wurde und die Strukturen es kaum mehr zulassen, automatisierbare Routinetätigkeiten zu definieren, die einfach bloß erledigt werden müssen und nicht in die beständigen Verschiebungen des Machtgefüges an Instituten und Fakultäten verwickelt sind.

Soll AI Verwaltung übernehmen, bräuchte es zunächst ein Einvernehmen, welche Teile davon aus dem Kampf um Anerkennung und Einfluss herausgenommen werden sollen. Das zu erzielen, erscheint derzeit illusorisch, denn der Kampf beruht auf Angst, auf einem konstitutiven Mangel an Vertrauen in die anderen und in die eigene Leistung (der wahre Luxus wäre freundliche Gleichgültigkeit, und jede*r weiß, dass die das Ende der Karriere bedeutet).

Die Künste und der ‚kreative‘ Anteil der wissenschaftlichen Diskurse bieten sich der rhetorischen Übernahme durch schnell lernende AI wehrlos dar, weil keine vergleichbare Angst sie schützt. Der alte Glaube aus metaphysisch geprägten Jahrtausenden, es gebe einen nicht-rhetorisierbaren Kern menschlichen Geistes, der sich den Maschinenperformanzen zuverlässig entziehen werde, verstärkt die Schieflage zusätzlich.

In den Präferenzen des AI-Einsatzes ist eine Körper/Geist-Trennung beharrlich am Werk: Man imaginiert Verwaltung als die Regierung der Körper, die der schlechten Fremdbestimmung keinen verlässlichen Widerstand entgegenzusetzen vermögen, weshalb im Namen der Freiheit schlecht koordinierte Selbstbestimmungen sich aneinander aufzureiben haben (die populären liberalen Angstvisionen fokussieren das Maschinelle im Dienst einer autokratischen Regierung, aber wovor unser System aus Souveränität und Liberalismus viel mehr Angst hat, sind Verwaltungsmaschinen, die innerhalb eines liberalen Gemeinwesens so effektiv funktionieren, dass die, die Macht wollen, keinen Vorwand mehr finden, um Verwaltungstätigkeit an sich zu ziehen bzw. unter ihrer Kontrolle zu delegieren).

Kreativität hingegen treibt an der Oberfläche der Gewissheit, sie lasse sich wegen ihrer geistigen Natur nicht regieren. Dabei sagen die Muster des Netflix-Contents oder die argumentativen Patterns „geisteswissenschaftlicher“ Aufsätze dieselbe Wahrheit wie die Reaktion des Ingenieurs, der überzeugt war, Googles Chatbot LaMDA sei „sentient“, nachdem das Programm in einem Dialog eine Reihe von grammatisch korrekten und situativ stimmigen liberalen Plattitüden über sich selbst und das Verhältnis zum Menschen ausgespuckt hatte: Ein Großteil dessen, was unser menschliches Kommunizieren ausmacht, beruht auf der Rekombination eines sehr begrenzten Zeichenvorrats nach sehr absehbaren Strukturen.

Kommunikation ist dabei nicht gleich Bewusstsein, und es findet zwischen beidem auch keine direkte Übersetzung statt, wie die Luhmann’sche Soziologie zurecht betonte. Die Differenz des menschlichen Gehirns zu einem Computer kann daher die menschliche Sozialsphäre nicht davor bewahren, dass Computer-Output sie ununterscheidbar durchsetzt.

So setzen die gegenwärtigen AI-Anwendungen auch keineswegs beim Denken an, sondern beim Schreiben, Malen, Komponieren usw. Chat GPT unterlaufen teils schwerwiegende sachliche Fehler, was auf mangelhafte Kognition verweisen würde, wenn es sich denn um eine Kognitions-Software handelte. Aber die soziale Stärke der gegenwärtigen Generation von Programmen besteht darin, dass sie ohne den Versuch funktionieren, Kognitionsprozesse in menschlichen Gehirnen zu imitieren. Ihre Infrastruktur ist das Internet, kein Gehirn.

Das Internet füllen kommunikative Effekte menschlicher Kognition – aber eben lediglich Effekte, die zu den Kognitionsprozessen in einem indirekten, nicht ableitbaren Verhältnis stehen (Luhmann sprach von „Interferenzen“ zwischen Bewusstsein und Kommunikation, um dieses Indirekte zu bezeichnen).

Von den Interaktionen mit und vermittels AI vor allem zu lernen ist momentan die Externalität der Kommunikation gegenüber dem Bewusstsein. Wissen tun wir um die in der Theorie schon viele Jahrzehnte, aber bislang konnte man sie praktisch ignorieren, ohne dass es groß auffiel. Das geht allmählich immer schlechter.

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On making democratic decisions (less theater, more contemporary dance)

We keep on entertaining the idea that arguing opinions and making decisions go hand in hand. Combining the two – conventional wisdom holds – will make for a democratic process. But I suspect that they may be two very different things, hardly compatible with one another, and that the effort to make them compatible even though they are not consumes a lot of our time and energy when it comes to making decisions.

An opinion is a non-practical judgment. I have an opinion insofar as I am not acting. Even if I am involved in the process, in order to have an opinion I must detach myself from its practical entanglements and pretend that I can take a step outside. Citizens are usually not involved. Citizens have strong opinions, because they get to decide next to nothing.

Decision-making needs forms of communicating that take the emphasis away from opinions and put it on practical preferences: From here on (from the point of view of practice, the process is always already under way and a decision concerns its continuation), do I prefer to go in this direction or in this direction, or in this direction…? We ought to devise formats that translate the theater of debate with its clash of opinions into a performance that is navigated by various preferences. Less theater, more contemporary dance.

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